Unter dem Diktat der „Zeitenwende“ tritt der Politiker als Herumwurstler auf den Plan. Nichts kann er lassen, wie es ist, nichts Überkommenes erhaltenswert finden. Dahinter verbirgt sich eine Rhetorik der Nötigung, die schon in der Beschwörung einer „neuen Normalität“ seit Corona steckte.
Offiziell proklamiert wurde die „Zeitenwende“, die ein gesamteuropäisches, zugleich aber ein spezifisch deutsches Phänomen sein soll und in deren Namen mittlerweile lautstärker als zur militärischen Unterstützung der Ukraine zum flächendeckenden Einbau von Wärmepumpen und zur Einhaltung von Extremwetternotfallplänen aufgerufen wird, am 29. August 2022 in Prag. An diesem Tag hielt Bundeskanzler Olaf Scholz an der dortigen Karls-Universität eine Rede über das europäische Erbe Osteuropas, in dem er eine Formulierung aus seiner Regierungserklärung vom Februar gleichen Jahres, worin er Russlands Überfall auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ genannt hatte, programmatisch zuspitzte.
In Prag sagte Scholz: „Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen – etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten. Der brutale Überfall auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung.“ Von nun an gelte es, europaweit und transnational „die richtigen … Antworten auf die Zeitenwende zu geben.“
In seiner Prager Rede beschrieb Scholz jene Zeitenwende als Epochenzäsur, die die Notwendigkeit der Durchsetzung europäischen Rechts gegen eine anachronistische Rechtsordnung der „Großmächte“ vor Auge führe. Der Repräsentant jener veralteten Großmachtordnung sei Wladimir Putin. Schon im Februar hatte Scholz mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gesagt: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“
Anders als die neu-alte Friedensbewegung meint, die sich seither gegen die angebliche Kriegstreiberei der Bundesregierung in Stellung bringt, begründete Scholz selber seinen Appell ganz im Geiste einer Friedensliebe, die er als deutsch-europäische Mission darstellte. Diese Mission zielt jedoch nicht allein auf die Einhegung illegitimer Großmachtansprüche, sondern auf die Selbsteinklammerung westlicher Nationalstaatlichkeit überhaupt.
Um den russischen Imperialismus in seine Grenzen zu verweisen, bedürfe es nämlich, so Scholz, einer europapolitisch koordinierten Selbstzurücknahme nationalstaatlicher Egoismen: „Angesichts der Zeitenwende … lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. … Die Zeitenwende trifft nicht nur unser Land; sie trifft ganz Europa. … Die Herausforderung besteht darin, die Souveränität der Europäischen Union nachhaltig und dauerhaft zu stärken.“
Ganz im Sinne des Projekts einer freiwilligen Selbsteinklammerung der europäischen Nationalstaaten zugunsten eines gegen russische Großmachtansprüche antretenden Europa argumentierte Scholz, als er in Prag den von der Bundesregierung für borniert und nationalistisch gehaltenen osteuropäischen Staaten, zuvorderst Polen und Tschechien, die Delegierung ihrer nationalen Souveränität an die EU als notwendigen Beitrag zum Kampf gegen den russischen Imperialismus verkaufte.
Dabei vergaß er nicht zu bekräftigen, dass selbstverständlich auch Deutschland seinen Teil zu diesem Kampf beitragen werde, und plädierte – unausgesprochen, aber deutlich gegen die kleineren osteuropäischen Staaten gerichtet – angesichts des durch Russland erzeugten „Handlungsdrucks“ für die Demontage des Einstimmigkeitsprinzips bei europapolitischen Entscheidungen:
„Ich habe … vorgeschlagen, in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen – wohl wissend, dass dies auch Auswirkungen für Deutschland hätte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Ein Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit funktioniert nur, solange der Handlungsdruck gering ist. Spätestens angesichts der Zeitenwende aber ist das nicht mehr der Fall.“
In solcher Beschwörung von Alternativlosigkeit ähnelt die außenpolitische Rhetorik der „Zeitenwende“ der Panikpolitik, die die Bundesregierung während der Corona-Pandemie betrieb und die sie mittlerweile auf den Gebieten von Klimaschutz und „Energiewende“ fortsetzt. Man bemüht sich gar nicht mehr, nachvollziehbare Argumente zur Verteidigung der eigenen permanenten Notstandspolitik zu formulieren; der „Handlungsdruck“ erübrigt jedes Argument.
Sich bei Einklammerung der nationalen Souveränität unter dem Dach der EU zusammenzuschweißen, ist Scholz zufolge für die Nationalstaaten nicht deshalb geboten, weil es vernünftig wäre, sondern, weil der gemeinsame Außenfeind es erzwinge, der mittelbar auch für hohe Strompreise, „Ernährungsampeln“ und die Folgen des „grünen Schrumpfens“ verantwortlich gemacht wird: „Putins Russland definiert sich … in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin ausnutzen. … Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine EU, die liefert. … Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der EU ganz handfeste Dinge, zum Beispiel mehr Tempo beim Klimaschutz, gesunde Lebensmittel, nachhaltige Lieferketten“.
Nichts an dieser Assoziationskette ist triftig: Gerade Deutschland, insbesondere Scholz’ Partei, hat vor dem Ausbruch von „Putins Krieg“, der eben deshalb in gewisser Hinsicht ein deutscher Krieg ist, am meisten dazu beigetragen, Russland die Vorbereitung seines Angriffs zu erleichtern. Die Situation der Ukraine seit Annexion der Krim hat hierzulande lange Zeit kaum jemanden interessiert; erst seit es der gesamtgrünen Bundesregierung in den eigenen energiepolitischen Kram passt, wird Russland von denen, die es zuvor protegierten, zur Verkörperung des Bösen erklärt.
Und den Bürgerinnen und Bürgern bereitet die Vorstellung, dass die EU bei der Erfüllung des Wunschzettels der Bundesregierung „liefert“, anders als Scholz insinuiert eher Unbehagen denn Hoffnung. Erst der Taschenspielertrick, der ein unrealistisches, von der Mehrheit der Bürger abgelehntes innenpolitisches Ziel („Energiewende“) in einen vorgeschobenen außenpolitischen Zweck ummünzt, ermöglicht den Übergang vom Kriegsthema zu den grünen und inzwischen auch sozialdemokratischen Steckenpferden „Klimaschutz, gesunde Lebensmittel“ und „nachhaltige Lieferketten“.
An diese Lieblingsthemen knüpfte Annalena Baerbock an, als sie am 8. Juli 2022 beim Hamburger Vigoni-Forum über „Die europäische Demokratie in der Zeitenwende“ sprach. Hier erklärte sie, wie in einem Echo auf die Rede von der durch die Corona-Pandemie geschaffenen „neuen Normalität“: „(E)ine Rückkehr in die Zeit vor diesem Angriff wird es nicht geben. … Diese neue Realität haben wir uns nicht gewünscht – aber wir können uns nicht vor ihr wegducken. … Sicherheit schaffen wir im 21. Jahrhundert nur, wenn wir sie in allen ihren Dimensionen denken: wenn wir unsere freiheitlichen Demokratien vor Hass schützen, den Trollfabriken in soziale Netzwerke pumpen. … Und wenn wir die Klimakrise bekämpfen, die weltweit … unsere Lebensgrundlagen bedroht.“
Die von Baerbock betriebene Entgrenzung des zuvor außenpolitisch auf Russland zielenden Begriffs der Zeitenwende im Sinne einer das gesamte Leben der Menschen nicht nur in Deutschland affizierenden metapolitischen Zäsur greift eine Tendenz zur Metaphorisierung des Wortes auf, die durch zivilgesellschaftliche Organisationen befördert wird.
Im Februar 2022 verbreitete der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) unter der Überschrift „Zeitenwende im Kampf gegen die Klimakrise“ folgende Einschätzung seiner Geschäftsführerin Antje von Broock: „Kanzler Olaf Scholz hat mit Blick auf den Krieg in der Ukraine von einer Zeitenwende gesprochen. Auch angesichts der Klimakrise stehen wir an solch einem Wendepunkt. Die Klimaauswirkungen treten schneller als bisher auf und treffen uns härter als gedacht. … Die Klimakrise ist auch eine Sicherheitsbedrohung.“
Im November 2022 veröffentlichte der Münchener Ifo-Dienst ein Dossier zum Thema „Klima, Corona, Krieg – Steht die soziale Marktwirtschaft vor einer Zeitenwende?“. Am 2. Mai 2023 diskutierte die Bertelsmann-Stiftung über „Geldpolitik in der Zeitenwende – Wie umgehen mit der Klimakrise?“. Und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, für den die Klimakrise ebenfalls eine „Zeitenwende“ markiert, sagte beim 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag im vergangenen Juni: „Der Klimawandel ist die Menschheitsaufgabe unserer Zeit … Mit seinen Folgen betrifft er alles, komplexer kann man sich eine Herausforderung nicht vorstellen.“
Nimmt man die Rede von der Zeitenwende nicht als das rhetorische Schmiermittel hin, als das sie gebraucht wird, und fragt stattdessen nach ihrer objektiven Funktion, wird sie als propagandistische Übersetzung von Politik in Metapolitik, von nationalstaatlichen Interessen in moralisierenden Menschheitsidealismus, von instrumenteller Vernunft in Weltmissionierung erkennbar. Das Vokabular der „Zeitenwende“ ist metapolitisch statt politisch, pseudoreligiös statt pragmatisch, und adressiert nie das einzelne Individuum, den mündigen Bürger, sondern eine imaginierte Menschengemeinschaft.
Handlungsdruck, Bedrohung der Lebensgrundlagen, Wendepunkt, Menschheitsaufgabe, Herausforderung als Chance, Krise allerorten: Solch nötigende Rhetorik, die nahelegt, dass die Apokalypse unmittelbar bevorsteht und jeder Einzelne angehalten ist, sich zu entscheiden, ob er nach der großen Reinigung ins Paradies kommen oder in der Hölle schmoren möchte, steckte bereits in der Beschwörung einer „neuen Normalität“ seit Corona, aus der die Ausrufung der „Zeitenwende“ hervorgegangen ist.
Kritik an dieser Metapolitisierung der Außen-, Innen-, Wirtschafts-, Infrastruktur- und Gesundheitspolitik, die allesamt dem Imperativ der „neuen Normalität“ und „neuen Zeit“ unterworfen werden, kommt statt von Ideologiekritikern und Politaktivisten fast ausschließlich von Konservativen, die sich durch das Festhalten an ihrem Konservatismus zunehmend verdächtig machen.
So entwarf der frühere „FAZ“-Redakteur Carsten Germis im Sommerheft der Quartalszeitschrift „Tumult“ ein Porträt des Ludwig-Börne-Preisträgers Robert Habeck, den er in Anlehnung an den Politikwissenschaftler Eric Voegelin als „wortgewaltigen Gnostiker“ charakterisierte. Der moderne Gnostiker als spezifische Erscheinungsform des politischen Theologen zeichnet sich laut Voegelin dadurch aus, dass für sein politisches Handeln „die Nichtanerkennung der Realität eine Sache des Prinzips“ ist. Er wähnt sich „in einer apokalyptischen Gegenwart, in der ein rückständiges ‚Volk‘ von der geschichtlichen Avantgarde der ‚Philosophen‘ zur Reife geführt werden soll“.
Die empirische Wirklichkeit, der Alltag der Menschen, die Bedingungen, unter denen sie leben, ebenso wie ihre individuellen Bedürfnisse, kommen für den Gnostiker lediglich als Verwirklichungsmaterial einer „Zweiten Realität“ in Betracht, die aus der schnöden, makelbehafteten, imperfekten Wirklichkeit herausgeschält werden muss. In seiner Ende der Sechzigerjahre entstandenen Schrift „The Eclipse of Reality“ hat Voegelin den missionarischen politischen Aktivismus, den der moderne Gnostiker an den Tag legt, als losgelassenen Voluntarismus beschrieben: als restlose Unterwerfung der lebendigen, endlichen und unvollkommenen Realität unter den Primat einer Weltinnenpolitik, die die Lebensverhältnisse der Menschen nicht menschengerecht gestalten, sondern durch ein metapolitisches Ideal zerstören und ersetzen soll.
Doch anders als Voegelin nahelegt, ist der moderne Gnostiker, den Germis im grünen Philosophen-Vizekanzler wiedererkennt, nicht nur ein haltloser Idealist, der die Gesellschaft als Spielzeug seiner Wunschphantasien instrumentalisiert. Vielmehr ist er auch ein haltloser Pragmatiker und hemmungsloser Herumwurstler, der nichts lassen kann, wie es ist, nichts Überkommenes für erhaltenswert befindet, dem keine Privatsphäre, kein Eigentum, kein Territorium und keine Gewohnheit mehr heilig sind, und der deshalb besserwisserisch in allem herumpfuscht, was ohne seine penetranten Interventionen viel besser funktionieren würde.
Deshalb sind die Maximen seines politischen Handelns weder die Reform noch die Revolution, sondern die Disruption und die Sabotage: die mutwillige Zerstörung des Überlieferten ebenso wie des Erhofften. Unter Verwendung eines Begriffspaars, das der Historiker Reinhart Koselleck prägte, lassen sich die Folgen solcher Politik als Zerstörung des alltäglichen Erfahrungshintergrunds der Bürger bei gleichzeitiger Abschließung des Erwartungshorizonts beschreiben: Disruption bedeutet, dass alles, womit die Menschen gestern noch rechnen konnten, morgen schon annulliert sein kann, und Tradition, Erfahrungswissen und gesunder Menschenverstand nichts mehr gelten, während in der Zukunft nur mit Verderbnis oder Erlösung, aber nicht mit einer Verbesserung der je individuellen Lebensverhältnisse zu rechnen ist.
Darum ist die Politik der „Zeitenwende“ eine Politik der Lebenslaufzerstörung, der Aufkündigung jeglicher nachvollziehbaren Vermittlung zwischen Gewesenem und Künftigem, Erfahrung und Hoffnung. Sie zielt auf Herstellung einer Welt, in der jederzeit alles, nur nichts Besseres für den Einzelnen zu erwarten ist, und in der alles, was ein Menschenleben im Guten wie im Schlechten ausmacht, umgehend und grundlos kassiert werden kann: auf die Liquidation von Normalität. Deshalb wird jeder, der dieser Politik widerspricht, „rechts“ oder wenigstens „rechtsoffen“ genannt, egal, ob er in Wahrheit ein Linker oder ein Liberaler ist.
Wer glaubt, dass es noch etwas zu retten und zu verwirklichen gibt, und dass das Leben sich nicht im ständigen Reagieren auf immer neue Zumutungen erschöpft, ist raus aus dem Spiel: So sieht die Zeit aus, der die Zeitenwende den Weg bereitet und vor der die Menschen sich wohl tatsächlich nur noch durch Betätigung der Notbremse bewahren können.