Was früher „alternativlos“ war, heißt jetzt einfach „Zeitenwende“ (WELT 04.01.2023 von Magnus Klaue)

Unter dem Diktat der „Zeitenwende“ tritt der Politiker als Herumwurstler auf den Plan. Nichts kann er lassen, wie es ist, nichts Überkommenes erhaltenswert finden. Dahinter verbirgt sich eine Rhetorik der Nötigung, die schon in der Beschwörung einer „neuen Normalität“ seit Corona steckte.

Offiziell proklamiert wurde die „Zeitenwende“, die ein gesamteuropäisches, zugleich aber ein spezifisch deutsches Phänomen sein soll und in deren Namen mittlerweile lautstärker als zur militärischen Unterstützung der Ukraine zum flächendeckenden Einbau von Wärmepumpen und zur Einhaltung von Extremwetternotfallplänen aufgerufen wird, am 29. August 2022 in Prag. An diesem Tag hielt Bundeskanzler Olaf Scholz an der dortigen Karls-Universität eine Rede über das europäische Erbe Osteuropas, in dem er eine Formulierung aus seiner Regierungserklärung vom Februar gleichen Jahres, worin er Russlands Überfall auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ genannt hatte, programmatisch zuspitzte.

In Prag sagte Scholz: „Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen – etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten. Der brutale Überfall auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung.“ Von nun an gelte es, europaweit und transnational „die richtigen … Antworten auf die Zeitenwende zu geben.“

In seiner Prager Rede beschrieb Scholz jene Zeitenwende als Epochenzäsur, die die Notwendigkeit der Durchsetzung europäischen Rechts gegen eine anachronistische Rechtsordnung der „Großmächte“ vor Auge führe. Der Repräsentant jener veralteten Großmachtordnung sei Wladimir Putin. Schon im Februar hatte Scholz mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gesagt: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“

Anders als die neu-alte Friedensbewegung meint, die sich seither gegen die angebliche Kriegstreiberei der Bundesregierung in Stellung bringt, begründete Scholz selber seinen Appell ganz im Geiste einer Friedensliebe, die er als deutsch-europäische Mission darstellte. Diese Mission zielt jedoch nicht allein auf die Einhegung illegitimer Großmachtansprüche, sondern auf die Selbsteinklammerung westlicher Nationalstaatlichkeit überhaupt.

Um den russischen Imperialismus in seine Grenzen zu verweisen, bedürfe es nämlich, so Scholz, einer europapolitisch koordinierten Selbstzurücknahme nationalstaatlicher Egoismen: „Angesichts der Zeitenwende … lautet unser Maßstab: Was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht wird, das wird getan. … Die Zeitenwende trifft nicht nur unser Land; sie trifft ganz Europa. … Die Herausforderung besteht darin, die Souveränität der Europäischen Union nachhaltig und dauerhaft zu stärken.“

Ganz im Sinne des Projekts einer freiwilligen Selbsteinklammerung der europäischen Nationalstaaten zugunsten eines gegen russische Großmachtansprüche antretenden Europa argumentierte Scholz, als er in Prag den von der Bundesregierung für borniert und nationalistisch gehaltenen osteuropäischen Staaten, zuvorderst Polen und Tschechien, die Delegierung ihrer nationalen Souveränität an die EU als notwendigen Beitrag zum Kampf gegen den russischen Imperialismus verkaufte.

Dabei vergaß er nicht zu bekräftigen, dass selbstverständlich auch Deutschland seinen Teil zu diesem Kampf beitragen werde, und plädierte – unausgesprochen, aber deutlich gegen die kleineren osteuropäischen Staaten gerichtet – angesichts des durch Russland erzeugten „Handlungsdrucks“ für die Demontage des Einstimmigkeitsprinzips bei europapolitischen Entscheidungen:

„Ich habe … vorgeschlagen, in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen – wohl wissend, dass dies auch Auswirkungen für Deutschland hätte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Ein Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit funktioniert nur, solange der Handlungsdruck gering ist. Spätestens angesichts der Zeitenwende aber ist das nicht mehr der Fall.“

In solcher Beschwörung von Alternativlosigkeit ähnelt die außenpolitische Rhetorik der „Zeitenwende“ der Panikpolitik, die die Bundesregierung während der Corona-Pandemie betrieb und die sie mittlerweile auf den Gebieten von Klimaschutz und „Energiewende“ fortsetzt. Man bemüht sich gar nicht mehr, nachvollziehbare Argumente zur Verteidigung der eigenen permanenten Notstandspolitik zu formulieren; der „Handlungsdruck“ erübrigt jedes Argument.

Sich bei Einklammerung der nationalen Souveränität unter dem Dach der EU zusammenzuschweißen, ist Scholz zufolge für die Nationalstaaten nicht deshalb geboten, weil es vernünftig wäre, sondern, weil der gemeinsame Außenfeind es erzwinge, der mittelbar auch für hohe Strompreise, „Ernährungsampeln“ und die Folgen des „grünen Schrumpfens“ verantwortlich gemacht wird: „Putins Russland definiert sich … in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin ausnutzen. … Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine EU, die liefert. … Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der EU ganz handfeste Dinge, zum Beispiel mehr Tempo beim Klimaschutz, gesunde Lebensmittel, nachhaltige Lieferketten“.

Nichts an dieser Assoziationskette ist triftig: Gerade Deutschland, insbesondere Scholz’ Partei, hat vor dem Ausbruch von „Putins Krieg“, der eben deshalb in gewisser Hinsicht ein deutscher Krieg ist, am meisten dazu beigetragen, Russland die Vorbereitung seines Angriffs zu erleichtern. Die Situation der Ukraine seit Annexion der Krim hat hierzulande lange Zeit kaum jemanden interessiert; erst seit es der gesamtgrünen Bundesregierung in den eigenen energiepolitischen Kram passt, wird Russland von denen, die es zuvor protegierten, zur Verkörperung des Bösen erklärt.

Und den Bürgerinnen und Bürgern bereitet die Vorstellung, dass die EU bei der Erfüllung des Wunschzettels der Bundesregierung „liefert“, anders als Scholz insinuiert eher Unbehagen denn Hoffnung. Erst der Taschenspielertrick, der ein unrealistisches, von der Mehrheit der Bürger abgelehntes innenpolitisches Ziel („Energiewende“) in einen vorgeschobenen außenpolitischen Zweck ummünzt, ermöglicht den Übergang vom Kriegsthema zu den grünen und inzwischen auch sozialdemokratischen Steckenpferden „Klimaschutz, gesunde Lebensmittel“ und „nachhaltige Lieferketten“.

An diese Lieblingsthemen knüpfte Annalena Baerbock an, als sie am 8. Juli 2022 beim Hamburger Vigoni-Forum über „Die europäische Demokratie in der Zeitenwende“ sprach. Hier erklärte sie, wie in einem Echo auf die Rede von der durch die Corona-Pandemie geschaffenen „neuen Normalität“: „(E)ine Rückkehr in die Zeit vor diesem Angriff wird es nicht geben. … Diese neue Realität haben wir uns nicht gewünscht – aber wir können uns nicht vor ihr wegducken. … Sicherheit schaffen wir im 21. Jahrhundert nur, wenn wir sie in allen ihren Dimensionen denken: wenn wir unsere freiheitlichen Demokratien vor Hass schützen, den Trollfabriken in soziale Netzwerke pumpen. … Und wenn wir die Klimakrise bekämpfen, die weltweit … unsere Lebensgrundlagen bedroht.“

Die von Baerbock betriebene Entgrenzung des zuvor außenpolitisch auf Russland zielenden Begriffs der Zeitenwende im Sinne einer das gesamte Leben der Menschen nicht nur in Deutschland affizierenden metapolitischen Zäsur greift eine Tendenz zur Metaphorisierung des Wortes auf, die durch zivilgesellschaftliche Organisationen befördert wird.

Im Februar 2022 verbreitete der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) unter der Überschrift „Zeitenwende im Kampf gegen die Klimakrise“ folgende Einschätzung seiner Geschäftsführerin Antje von Broock: „Kanzler Olaf Scholz hat mit Blick auf den Krieg in der Ukraine von einer Zeitenwende gesprochen. Auch angesichts der Klimakrise stehen wir an solch einem Wendepunkt. Die Klimaauswirkungen treten schneller als bisher auf und treffen uns härter als gedacht. … Die Klimakrise ist auch eine Sicherheitsbedrohung.“

Im November 2022 veröffentlichte der Münchener Ifo-Dienst ein Dossier zum Thema „Klima, Corona, Krieg – Steht die soziale Marktwirtschaft vor einer Zeitenwende?“. Am 2. Mai 2023 diskutierte die Bertelsmann-Stiftung über „Geldpolitik in der Zeitenwende – Wie umgehen mit der Klimakrise?“. Und der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, für den die Klimakrise ebenfalls eine „Zeitenwende“ markiert, sagte beim 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag im vergangenen Juni: „Der Klimawandel ist die Menschheitsaufgabe unserer Zeit … Mit seinen Folgen betrifft er alles, komplexer kann man sich eine Herausforderung nicht vorstellen.“

Nimmt man die Rede von der Zeitenwende nicht als das rhetorische Schmiermittel hin, als das sie gebraucht wird, und fragt stattdessen nach ihrer objektiven Funktion, wird sie als propagandistische Übersetzung von Politik in Metapolitik, von nationalstaatlichen Interessen in moralisierenden Menschheitsidealismus, von instrumenteller Vernunft in Weltmissionierung erkennbar. Das Vokabular der „Zeitenwende“ ist metapolitisch statt politisch, pseudoreligiös statt pragmatisch, und adressiert nie das einzelne Individuum, den mündigen Bürger, sondern eine imaginierte Menschengemeinschaft.

Handlungsdruck, Bedrohung der Lebensgrundlagen, Wendepunkt, Menschheitsaufgabe, Herausforderung als Chance, Krise allerorten: Solch nötigende Rhetorik, die nahelegt, dass die Apokalypse unmittelbar bevorsteht und jeder Einzelne angehalten ist, sich zu entscheiden, ob er nach der großen Reinigung ins Paradies kommen oder in der Hölle schmoren möchte, steckte bereits in der Beschwörung einer „neuen Normalität“ seit Corona, aus der die Ausrufung der „Zeitenwende“ hervorgegangen ist.

Kritik an dieser Metapolitisierung der Außen-, Innen-, Wirtschafts-, Infrastruktur- und Gesundheitspolitik, die allesamt dem Imperativ der „neuen Normalität“ und „neuen Zeit“ unterworfen werden, kommt statt von Ideologiekritikern und Politaktivisten fast ausschließlich von Konservativen, die sich durch das Festhalten an ihrem Konservatismus zunehmend verdächtig machen.

So entwarf der frühere „FAZ“-Redakteur Carsten Germis im Sommerheft der Quartalszeitschrift „Tumult“ ein Porträt des Ludwig-Börne-Preisträgers Robert Habeck, den er in Anlehnung an den Politikwissenschaftler Eric Voegelin als „wortgewaltigen Gnostiker“ charakterisierte. Der moderne Gnostiker als spezifische Erscheinungsform des politischen Theologen zeichnet sich laut Voegelin dadurch aus, dass für sein politisches Handeln „die Nichtanerkennung der Realität eine Sache des Prinzips“ ist. Er wähnt sich „in einer apokalyptischen Gegenwart, in der ein rückständiges ‚Volk‘ von der geschichtlichen Avantgarde der ‚Philosophen‘ zur Reife geführt werden soll“.

Die empirische Wirklichkeit, der Alltag der Menschen, die Bedingungen, unter denen sie leben, ebenso wie ihre individuellen Bedürfnisse, kommen für den Gnostiker lediglich als Verwirklichungsmaterial einer „Zweiten Realität“ in Betracht, die aus der schnöden, makelbehafteten, imperfekten Wirklichkeit herausgeschält werden muss. In seiner Ende der Sechzigerjahre entstandenen Schrift „The Eclipse of Reality“ hat Voegelin den missionarischen politischen Aktivismus, den der moderne Gnostiker an den Tag legt, als losgelassenen Voluntarismus beschrieben: als restlose Unterwerfung der lebendigen, endlichen und unvollkommenen Realität unter den Primat einer Weltinnenpolitik, die die Lebensverhältnisse der Menschen nicht menschengerecht gestalten, sondern durch ein metapolitisches Ideal zerstören und ersetzen soll.

Doch anders als Voegelin nahelegt, ist der moderne Gnostiker, den Germis im grünen Philosophen-Vizekanzler wiedererkennt, nicht nur ein haltloser Idealist, der die Gesellschaft als Spielzeug seiner Wunschphantasien instrumentalisiert. Vielmehr ist er auch ein haltloser Pragmatiker und hemmungsloser Herumwurstler, der nichts lassen kann, wie es ist, nichts Überkommenes für erhaltenswert befindet, dem keine Privatsphäre, kein Eigentum, kein Territorium und keine Gewohnheit mehr heilig sind, und der deshalb besserwisserisch in allem herumpfuscht, was ohne seine penetranten Interventionen viel besser funktionieren würde.

Deshalb sind die Maximen seines politischen Handelns weder die Reform noch die Revolution, sondern die Disruption und die Sabotage: die mutwillige Zerstörung des Überlieferten ebenso wie des Erhofften. Unter Verwendung eines Begriffspaars, das der Historiker Reinhart Koselleck prägte, lassen sich die Folgen solcher Politik als Zerstörung des alltäglichen Erfahrungshintergrunds der Bürger bei gleichzeitiger Abschließung des Erwartungshorizonts beschreiben: Disruption bedeutet, dass alles, womit die Menschen gestern noch rechnen konnten, morgen schon annulliert sein kann, und Tradition, Erfahrungswissen und gesunder Menschenverstand nichts mehr gelten, während in der Zukunft nur mit Verderbnis oder Erlösung, aber nicht mit einer Verbesserung der je individuellen Lebensverhältnisse zu rechnen ist.

Darum ist die Politik der „Zeitenwende“ eine Politik der Lebenslaufzerstörung, der Aufkündigung jeglicher nachvollziehbaren Vermittlung zwischen Gewesenem und Künftigem, Erfahrung und Hoffnung. Sie zielt auf Herstellung einer Welt, in der jederzeit alles, nur nichts Besseres für den Einzelnen zu erwarten ist, und in der alles, was ein Menschenleben im Guten wie im Schlechten ausmacht, umgehend und grundlos kassiert werden kann: auf die Liquidation von Normalität. Deshalb wird jeder, der dieser Politik widerspricht, „rechts“ oder wenigstens „rechtsoffen“ genannt, egal, ob er in Wahrheit ein Linker oder ein Liberaler ist.

Wer glaubt, dass es noch etwas zu retten und zu verwirklichen gibt, und dass das Leben sich nicht im ständigen Reagieren auf immer neue Zumutungen erschöpft, ist raus aus dem Spiel: So sieht die Zeit aus, der die Zeitenwende den Weg bereitet und vor der die Menschen sich wohl tatsächlich nur noch durch Betätigung der Notbremse bewahren können.

Die Illusion vom anstrengungslosen Wohlstand (WELT, von Wolfgang Reitzle, 11.09.2023)

In der Ära Merkel gab es keine einzige wichtige Strukturreform. Inzwischen zählt Deutschland nicht mehr zu den 20 wettbewerbsfähigsten Staaten der Welt. Und jetzt schadet uns eine Klimapolitik, die wenig bis nichts für den Klimaschutz bewirkt. Dieser unheilvolle Trend muss gestoppt werden.

Deutschland ist im Niedergang. Nicht erst seit Corona und dem Ukraine-Krieg. Schon lange sind relevante Leistungsindikatoren im Trend negativ. Produktivitätsverbesserungen waren über lange Zeit Deutschlands Markenzeichen – seit vielen Jahren aber steigen die Lohnstückkosten. Deutschland ist nicht mehr unter den ersten zehn Ländern Europas beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Aus der Liste der 20 wettbewerbsfähigsten Länder der Welt sind wir herausgefallen.

16 Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel waren selbst für ein so starkes Land wie Deutschland zu viel. In der Ära Merkel gab es nicht eine einzige Strukturreform, die das Land leistungsfähiger gemacht hätte. Wohl aber wirken zwei fundamentale Entscheidungen dauerhaft nach: die Energiewende und die Öffnung der Grenzen für unkontrollierte Migration. Die Energieversorgung wurde sehr viel teurer. Die Kultur des Landes veränderte sich, und die Sozialsysteme sind unter Druck geraten.

Situatives Reagieren hinter der Trendwelle war Merkels Politikstil, statt einen strategisch durchdachten Zukunftsplan konsequent umzusetzen. Seit nunmehr fast 20 Jahren wird viel zu wenig in die Zukunft des Landes investiert. Kontinuierlich ausgebaut wurde nur der Sozialstaat. Gespart wurde an präventiver Instandhaltung. Schienensysteme, Straßen, Brücken, Schulen und öffentliche Einrichtungen haben massiv gelitten. Für ein so reiches Land wie Deutschland ist der Zustand der Infrastruktur eine Schande. Wegen überbordender Bürokratie steht die mangelhafte Dienstleistung des Staates für die Bürger in eklatantem Gegensatz zur ständig steigenden Steuer- und Abgabenlast.

Und was die deutsche Bürokratie nicht schafft, besorgt Brüssel. Ein Unternehmen wie BASF hat mit 14.000 Seiten Verordnung für die Regulierung der Chemieindustrie zu kämpfen. Das Lieferkettengesetz wird die Bürokratiekosten der Unternehmen massiv in die Höhe treiben, und die öffentliche Verwaltung hat die Digitalisierung komplett verschlafen.

Vieles, wofür Deutschland einmal weltweit bewundert wurde, funktioniert nicht mehr. Wie konnte all das passieren?

In Jahrzehnten der Prosperität ist ein neues Leitbild entstanden. Sein Kern: anstrengungsloser Wohlstand und Abkehr vom Leistungsgedanken. 25 Prozent der Grundschulabsolventen erfüllen nicht die Basisanforderungen. Jetzt wurden in der Grundschule für die Bundesjugendspiele Maßband und Stoppuhr abgeschafft. Zu viel Leistungsdruck! Die massive Verschlechterung der Pisa-Ergebnisse deutscher Schüler spricht Bände.

Wie aber will Deutschland in den nächsten Jahren im globalen Wettbewerb bestehen, wenn Leistung weder gefördert noch belohnt wird? Wenn man Besserverdienende steuerlich abstraft und gleichzeitig mit dem neuen Bürgergeld weiter in Richtung bedingungsloses Grundeinkommen geht? Wer Gerechtigkeit als Gleichheit interpretiert und damit jegliche Leistungsorientierung untergräbt, wird in einer sich schnell verändernden Welt mit rapiden technologischen Umbrüchen zum Verlierer werden.
Wir haben die kürzeste Arbeitszeit der Welt

Die logische Folge: Der Staat muss mehr und mehr zum Garanten persönlicher Lebensrisiken werden. Damit übernimmt er sich hoffnungslos. Die Staatsquote ist mittlerweile auf 50 Prozent angewachsen. Die Staatsgläubigkeit nimmt zu – die Unterstützung der Marktwirtschaft sinkt.

Deutschland hat bereits heute mit 1349 Stunden die mit Abstand kürzeste Jahresarbeitszeit der Welt (in den USA sind es 1791 Stunden, in Polen 1830 Stunden). Und wir diskutieren aktuell über die Vier-Tage-Woche, möglichst mit zwei Tagen Homeoffice zur verbesserten Work-Life-Balance. Dabei stecken wir in einer Stagflation, haben eklatanten Fachkräftemangel und müssten ganz eindeutig mehr statt weniger arbeiten.

In einer so kritischen Phase, in der alle relevanten Leistungsindikatoren des Landes negativ sind, müssten bei den Politikern alle Alarmglocken läuten. Aber seit der Flut im Ahrtal wissen wir ja, dass in Deutschland auch Alarmsysteme nicht mehr funktionieren.

Wieso wird über diese Themen öffentlich so wenig diskutiert? Weil der Fokus der Aufmerksamkeit seit langem auf einem Thema liegt: dem Klima. Kein anderes Land der Welt verfolgt eine dümmere Klimapolitik als Deutschland, wo man das Weltklima quasi im Alleingang retten will.

Dazu schalten wir in Zeiten eklatanten Energiemangels perfekt funktionierende Atomkraftwerke ab. Ersetzt wird der Strom unter anderem durch Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Deutschland. Wie glaubwürdig ist so eine Klimapolitik? Für lange Zeit werden wir den nach Polen schmutzigsten Strom Europas haben – und keinen nennenswerten Beitrag für den Klimaschutz leisten.

Der Webfehler der deutschen Energie- und Klimapolitik besteht in der Maxime: „All Electric – Renewables Only“. Alles soll elektrifiziert werden: Autos, Heizung, Industrie. Damit würde sich der Strombedarf schnell mehr als verdoppeln. Die Kapazitäten für Wind- und Solarstrom müssten mehr als vervierfacht werden. Da Wind- und Solarstrom eine hohe Volatilität aufweisen, bräuchten wir riesige Speicher- und Reservekapazitäten. Das jedoch ist für ein Land wie Deutschland weder technisch darstellbar noch bezahlbar. Es ist schlichtweg Irrsinn.

Schon vor dem Ukraine-Krieg war der deutsche Strom mit der teuerste der Welt. Durch die „Renewables Only“-Strategie wird er endgültig unbezahlbar. Wenn Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagt, man müsse jetzt den Industriestrompreis für ein paar Jahre subventionieren, bis dann flächendeckend der billige Wind- und Solarstrom verfügbar ist, bewegt er sich in der Welt der Märchen – oder er belügt die Bürger.
Wind- und Solarstrom sind volatil

Habecks Plan für „Renewables Only“ wird scheitern. Er und die Grünen sind gemeinsam mit einer großen Glaubensgemeinschaft links-grüner Journalisten auf einer ideologischen Reise, die Deutschland in gigantische Wohlstandsverluste führt.

Klug wäre stattdessen eine Zwei-Säulen-Strategie. Der Anteil von Wind- und Solarstrom sollte auf circa 50 Prozent begrenzt bleiben. Die zweite Säule der Versorgung wäre idealerweise durch Atomkraft zu bilden. Das aber scheint nicht mehr durchsetzbar zu sein. Also bietet sich an, diese Säule über Gaskraftwerke mit Carbon-Capture zu schaffen, damit auch CO₂-frei.

Bei solch einem Mix wäre die Volatilität der Erneuerbaren beherrschbar. Auch die meisten Industrieprozesse könnten auf Gas mit Carbon Capture umgestellt werden. Sie wären CO₂-frei und sehr viel billiger als der favorisierte Weg über grünen Wasserstoff. Stattdessen betreiben Habeck & Co. dogmatische Klimapolitik, abgekoppelt von Kostenbetrachtungen, und ruinieren so den Industriestandort.

Aus grüner Sicht allerdings ist das auch nicht wirklich ein Problem, denn das eigentliche Ziel grüner Politik ist der Umbau der Gesellschaft. An die Stelle des wachstumsgetriebenen Kapitalismus soll eine Degrowth-Gesellschaft des Verzichts treten. Nur so kann es zu den gewünschten Verhaltensänderungen in Richtung Konsumverzicht kommen.

Für diesen Umbau der Gesellschaft ist eine permanente Moralisierung der Debatte sehr hilfreich. Das fachliche Hinterfragen grüner Glaubensbekenntnisse soll unterbunden werden, selbst die Nachrichtensendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kommen immer seltener ohne den erhobenen Zeigefinger aus, der aber nicht der Regierung, sondern vor allem der Bevölkerung gilt.

Sollte sich diese Entwicklung fortsetzen, wird Deutschland weiter zurückfallen. Das wird dann aber zum Problem für ganz Europa. Denn mit dem Euro wurde de facto eine Haftungs- und Transfer-Union errichtet, in der Deutschland als letzte Instanz haftet. Sollte Deutschland aber zum kranken Mann Europas werden, ist das AAA-Rating in Gefahr. Der Tag, an dem Deutschland dieses Rating verliert, wird zum D-Day für das Eurosystem. Schließlich ist der Euro ohnehin der historisch größte Feldversuch für eine Einheitswährung ohne Fiskalunion und damit fragil.
Vernunft und Marktwirtschaft

Insofern ist die deutsche Politik mit ihrer Abkehr von Leistung, dem Anstreben von Gleichheit und dem Verfolgen einer unverantwortlichen Klimapolitik eine Gefahr. Nicht nur für Deutschland, sondern für ganz Europa. Dieser unheilvolle Trend muss gestoppt werden. Deutschland braucht eine Zäsur, eine faktenbasierte Politik der Vernunft und Marktwirtschaft.

Wir brauchen ein funktionierendes Einwanderungsgesetz für Einwanderung in den Arbeitsmarkt und nicht ins Sozialsystem. Solange die unkontrollierte Migration weiterläuft, massenhafte Einwanderung geduldet wird und Rückführung nicht funktioniert, geraten die Sozialsysteme noch weiter in Schieflage. Eine offene Diskussion darüber ist nicht gewollt.

Die Knappheit von bezahlbarem Wohnraum verschärft das Problem. Ein zentrales Versprechen der Ampel, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu schaffen, ist längst unrealistisch geworden. Ein weiteres Versagen des Staates. Das Entstehen von No-Go-Areas auch. In immer mehr Ländern Europas übernehmen rechte Regierungen die Macht. Wenn wir so weitermachen, wird dies auch in Deutschland zu einer realen Gefahr.

Noch verfügt unser Land über einzigartige Stärken. Noch haben wir einen bewundernswert starken Mittelstand. Noch haben wir Spitzenforschung mit Leuchttürmen wie die TU München. Noch haben wir Institutionen wie Max Planck, Leibniz, Helmholtz und Fraunhofer Gesellschaft, eine geniale Wissenschaftslandschaft.

Es bedarf jetzt dringend einer schonungslosen Bestandsaufnahme und eines Eingeständnisses, dass viele Fehlentwicklungen viel zu lange nicht korrigiert wurden. Vor allem aber brauchen wir einen neuen Grundkonsens in unserer Gesellschaft jenseits der Work-Life-Balance-Kultur.

Wohlstand ohne Leistung ist Illusion. Ohne Wohlstand kein funktionierender Sozialstaat. Wohlstand gedeiht nur auf dem Humus der Marktwirtschaft, nicht der Planwirtschaft. Wir brauchen einen schlanken, dabei aber effizienten Staat. Wir brauchen ein Schul- und Bildungssystem mit Fokus auf Qualität und Anspruch. Vor allem aber brauchen wir eine schnelle Korrektur der ideologischen Klimapolitik. Sie schadet dem Land und bewirkt wenig bis nichts für den Klimaschutz.

Das alles aber ist nur möglich, wenn eine offene Debatte geführt werden kann, wenn Deutschland wieder zu einem echten marketplace of ideas wird, auf dem hart in der Sache, aber fair im Umgang diskutiert wird, statt sich ständig im Moralisieren zu verlieren. Und das Land muss eine Tugend wiederentdecken, die irgendwo zwischen der Agenda 2010 und heute verloren gegangen ist: Ambition.

Wolfgang Reitzle ist Aufsichtsrat verschiedener Unternehmen, darunter Axel Springer SE, zu der auch WELT gehört.

„Es ist eine Lüge, wenn vom ,Kaputtsparen‘ geredet wird. Es war bewusste Politik“ (WELT Interview)

Top-Ökonom Daniel Stelter sieht die guten Jahre der Deutschen Wirtschaft verschwendet. Und in der Krise setze die Regierung falsche Prioritäten. Eine Rückkehr zu alter Stärke, wie sie schon einmal gelang, werde deshalb immer unwahrscheinlicher. Stelter sieht nur einen Rettungs-Hebel.

Das Altehrwürdige hat seinen Reiz nicht eingebüßt. Auf dem Weg zu den Fahrstühlen, die Daniel Stelter und den WELT-Autor in den Journalistenclub des Axel-Springer-Hochhauses in Berlin bringen sollen, bleibt der Blick des Ökonomen am alten Paternoster-Aufzug hängen, der noch immer in Betrieb ist – allerdings zu Stelters Bedauern von Gästen nicht genutzt werden darf. Im Interview spricht der Buchautor und Schöpfer des Ökonomie-Podcasts „beyond the obvious“ über den anhaltenden wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands und dessen Ursachen, aber er nennt auch Lösungsansätze.

WELT: Herr Stelter, seit Ihrem letzten Buch „Ein Traum von einem Land – Deutschland 2040“ sind zweieinhalb Jahre vergangen. Seither folgten zwei Kriegsausbrüche, weitere unkoordinierte Einwanderung, eine Energienotlage und die amtliche Bestätigung des deutschen Bildungsdesasters. Wird für Ihr Ziel langsam die Zeit knapp?

Daniel Stelter: Die Probleme waren damals längst für jedermann offensichtlich, nur niemand wollte es wahrhaben. Und alles, was bis dahin schlecht gelaufen war, ist danach beschleunigt schlecht gelaufen: Migration, das Bildungswesen, unsere Infrastruktur und die Digitalisierung. Hinzugekommen sind Deglobalisierung und Deindustrialisierung, zudem war die Stärkung der Bundeswehr damals noch eine Empfehlung, angesichts der geopolitischen Entwicklung ist sie heute ein Muss. Von daher: Ja, das Zeitfenster hat sich geschlossen, durch Zeitablauf, aber auch durch Änderung der Umfeldbedingungen.

WELT: Was davon kann man der Ampel-Koalition anlasten?

Stelter: Dass die Große Koalition unter Kanzlerin Merkel das Land verwaltet, den Atomausstieg beschlossen, fatale Energiepolitik betrieben und die guten Jahre ungenutzt gelassen hat, um das Land zukunftsfähig zu machen – das ist ja mittlerweile Konsens. Die Ampel hatte insofern schwierige Startbedingungen.

WELT: … aber?

Stelter: Die Frage ist doch: Wie reagiert man darauf? Wirtschaftsminister Habeck hatte die Chance, die Interessen des Landes über die seiner grünen Partei zu stellen und die letzten sechs Atomkraftwerke am Netz zu lassen. Er hätte ja sogar die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich gehabt. Damit hätte er über die Energiekosten zu sinkender Inflation beigetragen – und damit indirekt auch die politische Mitte gestärkt. Wir hätten in der Gasmangellage auch pragmatisch sagen können, wir machen Fracking in Deutschland, auch da gibt es Studien, die besagen, dass das technisch möglich ist.
Michael Höfling (links) im Gespräch mit dem Ökonomen Daniel Stelter
WELT-Autor Michael Höfling (l.) im Gespräch mit Daniel Stelter im Journalistenclub des Axel-Springer-Verlags in Berlin
Quelle: Peter Huth

WELT: Das ifo-Institut verweist darauf, dass es bis zur Förderung bis zu neun Jahre dauern würde.

Stelter: Ich glaube, das ist eine Frage des politischen Willens – wenn wir gewollt hätten, hätten wir das hinbekommen. Was dazukommt, ist, dass trotz des veränderten Umfelds so getan wird, als wären wir ein Land, das im Geld schwimmt, zum Beispiel bei der neuerlichen Erhöhung des Bürgergelds: Da heißt es immer, die Leute haben so wenig Geld …

WELT: Es gibt ja tatsächlich auch die Alleinerziehenden mit zwei Kindern, die nicht arbeiten gehen können, weil sie keine Kita-Plätze finden – und die Inflation lässt sich auch nicht wegdiskutieren.

Stelter: Ja, das Thema ist vielschichtig, aber die gern herangezogene Alleinerziehende ist nicht das wirklich typische Beispiel für die Masse. Und vergessen wir nicht: Bürgergeldempfänger bekommen zusätzlich die Warmmiete bezahlt. Von dem ganzen Ärger und den Sorgen um gestiegene Energiepreise wurden sie komplett freigehalten.

WELT: Die Erhöhung des Bürgergelds hat den Segen des Verfassungsgerichts, da käme die Politik gar nicht heran.

Stelter: Wir müssen das Bürgergeld trotzdem denen vermittelbar machen, die das Ganze erwirtschaften. Dazu brauchen wir einen stärkeren Anreiz zur Aufnahme einer Arbeit – und da bewegt sich Herr Heil ja auch jetzt offenbar endlich. Das betrifft vor allem jene Empfänger, die die deutsche Sprache noch nicht beherrschen. Sie lernen die ja nicht, wenn sie zu Hause bei der Familie sitzen, sondern „on the job“. Die Ampel hat zwar schon ein paar Stellschrauben betätigt, um Arbeit attraktiver zu machen. Aber die Grenzbelastung – also der Anteil eines zusätzlich verdienten Euros, der wieder abgegeben werden müsste –, ist für jemand, der aus dem Bürgergeld in Arbeit kommt, teilweise so hoch, dass es sich für ihn nicht lohnt, zu arbeiten. Deshalb müsste man an die zu hohe Abgabenbelastung in diesem Bereich heran, sodass am Ende jemand von jedem Euro, den er dazuverdient, die Hälfte behält. Und was die Alleinerziehenden angeht: Investieren wir doch in Kita-Plätze statt in Alimentierung.

WELT: Sehen Sie Sparpotenzial bei der Klimapolitik?

Stelter: Die müssten wir in der Tat ganz anders angehen, weil die Art wie wir es machen, einfach komplett ineffektiv und ineffizient ist. Wir müssten uns fragen: Wie viel Geld wollen wir in Deutschland pro Jahr für Klimaschutz ausgeben? Und uns dann für die effizienteste Verwendung dieser Mittel entscheiden. Wir dürften uns ja laut Pariser Klimaschutzabkommen sogar CO₂-Einsparungen, die wir im Ausland erzielen, auch anrechnen.

WELT: Warum tun wir das nicht?

Stelter: Es ist politisch nicht gewollt. Nehmen Sie die 80/20-Regel, das sogenannte Pareto-Prinzip: Demnach kann man den größten Teil einer Aufgabe mit nur wenig Aufwand erledigen: Also 80 Prozent des Ergebnisses mit nur 20 Prozent Aufwand. Erst die übrigen 20 Prozent erfordern den erheblichen Aufwand von 80 Prozent. Das gilt auch beim Kampf gegen Treibhausgase. Wenn wir also helfen, in Indien alte Kohlekraftwerke zu modernisieren, nutzt das dem globalen Klima unendlich viel mehr, als wenn wir hier den Schadstoffausstoß einzelner Gebäude mit hohen Subventionen und riesigem Aufwand minimal verbessern. Und dieses Prinzip gilt auch für den Plan der Politik, dass andere mit unseren Technologien den Kampf gegen den Klimawandel aufnehmen. Das geht am Markt vorbei. Denn was die Welt braucht, sind Technologien für die leichteren 80 Prozent. Und die kommen nicht von uns. Glauben Sie mir: Den Kampf um die schweren letzten 20 Prozent werden wir mit Lösungen führen, die es heute noch gar nicht gibt.

WELT: Die Ampel-Koalition hat sich im Haushaltsstreit geeinigt – und sich gleich vorbehalten, mit Blick auf eine Verschärfung im Ukraine-Krieg doch noch die Notlage auszurufen. Ein Haushaltstrick mit Ansage?

Stelter: „Ein Tag, der zeigt, was diese Regierung leisten kann“, meinte Wirtschaftsminister Habeck nach der Einigung. Die bittere Erkenntnis für uns Bürger ist: offensichtlich nicht viel. Statt bei einem Budget, was relativ zur Wirtschaftsleistung fast 60 Milliarden über dem Niveau von 2019 lag, Prioritäten zu setzen, hat man sich darauf verlegt, Bürger und Wirtschaft noch höher zu belasten. Wenn – wie die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) vorrechnet – die Stromkosten für die Wirtschaft um zehn bis 20 Prozent steigen, darf man sich nicht wundern, wenn die Zukunft für viele Unternehmen im Ausland liegt. Die Hintertür einer weiteren Notlage unterstreicht, wie wenig geeignet die Regierung ist, die Herausforderungen zur Sicherung unseres Wohlstands anzugehen.

WELT: Wie könnte denn bei einer möglichen Reform der Schuldenbremse vermieden werden, dass das Geld, wie schon in den vergangenen zehn, 15 Jahren, wieder überwiegend verkonsumiert statt investiert wird?

Stelter: Wir hätten von 2010 bis zur Corona-Krise problemlos mehr in unser Land investieren können und müssen, ohne dafür Schulden aufzunehmen. Stattdessen wurden die Mittel für mehr Sozialstaat, den Aufbau der Bürokratie und eine Vielzahl politischer Projekte von Migration bis Energiewende verbraucht. Es ist eine Lüge, wenn vom „Kaputtsparen“ geredet wird. Es war bewusste Politik. Es ist doch so: Erweitern wir den Rahmen der Politik, wird sie diesen nutzen – aber nicht unbedingt für echte Investitionen, denn diese waren immer möglich. Dennoch bin ich für eine Reform der Schuldenbremse, allein schon, weil wir eine Währung mit Ländern teilen, die nicht im Traum daran denken, weniger Schulden zu machen. Wer da spart, ist der Dumme. Wir sollten aber über dedizierte Sonderschulden gehen – was heute Sondervermögen genannt wird – und dabei die Mittelverwendung laufend und verbindlich von einer unpolitischen Instanz wie dem Bundesrechnungshof überprüfen lassen. Beim Thema „Transformation“ würde ich Vertreter der Wirtschaft direkt mit einbinden.

WELT: Hat es Deutschland nicht immer wieder geschafft, so etwa alle 20 Jahre mit einer großen Anstrengung zurück nach vorn zu kommen?

Stelter: Das höre ich auch oft. Es lässt sich leider nicht mehr einfach so in die Gegenwart übertragen. Als Schröder die Hartz-Reformen durchgesetzt hat, waren die Babyboomer um die 40, auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Jetzt stehen die alle vor der Rente. Zudem ist der globale Wettbewerb viel intensiver geworden. Und was wir heute an Geschäft nicht mehr haben, das ist weg. Und das kommt auch nicht wieder.

WELT: Was bedeutet das für die deutsche Volkswirtschaft?

Stelter: Es gäbe einen Hebel, wie wir auch die Diskussionen um die Schuldenbremse beenden könnten: Wachstum! Eine solche Politik wird aber bewusst nicht gemacht. Und so rutschen wir langsam abwärts – die Arbeitsbevölkerung schrumpft vor sich hin, die nicht integrierte Jugend wird mit Bürgergeld ruhig gestellt. So kann man die Substanz schon noch ein paar Jahre aufbrauchen, die DDR hat das ja auch über Jahrzehnte geschafft, wenn auch mit Transfers aus dem Westen. Den großen Knall wird es nicht geben.

WELT: Wäre das besser, damit die Probleme den Menschen bewusst werden? Dass wir als Land langsam abrutschen, müsste doch längst jeder in seiner Lebenswirklichkeit wahrnehmen.

Stelter: Solange Probleme nicht benannt werden, weil es den „Falschen“ in die Hände spielen könnte, wird sich das nicht ändern. Ich habe beispielsweise schon 2015 ganz nüchtern eine DIW-Studie analysiert und mit der Empirie verglichen, die auf der Annahme basierte, die Flüchtlinge würden langfristig einen positiven Beitrag für unsere Wirtschaft leisten – mit einem Kostenansatz von null. Ich habe gesagt, das wird uns mindestens 50 Milliarden Euro kosten und bin dafür angefeindet worden. Wir sehen ja jetzt, wo wir stehen.

WELT: Aber es dringt nicht durch. DIW-Chef Marcel Fratzscher war seit Mai 2020 mindestens achtmal bei Markus Lanz zu Gast. Und Sie?

Stelter: Seit März 2021 glaube ich gar nicht mehr.

WELT: Die Sendung, in der Sie von „Staatsversagen“ sprachen und damit eine große Debatte lostraten.

Stelter: Ja. Wobei ich es als witzig in Erinnerung habe, dass ich es ja begründet habe, und alle sind nacheinander meine Gründe durchgegangen und haben mir eigentlich am Ende Punkt für Punkt zugestimmt. Vielleicht hätte ich besser von Politikversagen sprechen sollen.

Wie ein linkes Deutschland den Bezug zur Wirklichkeit verlor, von Ulf Poschardt

Linke, Grüne und ihnen ergebene Medien träumten lange davon, dem Land ihre Elitenideologie aufzuzwingen. Lästige Tatsachen? Wurden ignoriert, von Migration bis Klima. Doch nun schlägt diese Realität umso heftiger zurück. Der Israel-Hass mancher migrantischer Milieus ist nur ein Beispiel.

Die Linke hatte einst einen Wahrnehmungsvorsprung. Sie blickte weit in die Zukunft, weil sie von Utopien träumte. Diesen Vorsprung haben die Linken gegen Macht eingetauscht. Heute beschränken sich Teile der linken Wahrnehmungsarbeit auf die Absicherung der eigenen Macht. Ein verkehrter Walter Benjamin: Der Engel der Geschichte läuft mit geschlossenen Augen rückwärts einer unsicheren Zukunft entgegen.

Jüngstes Beispiel sind die Wahlen in Bayern und Hessen: Linke Medien versuchen, aus den beiden Siegen der Union eine Niederlage zu machen. Die Grünen aus Bayern sehen die Zeit für einen „Notfallplan für die Demokratie“ gekommen. Im WDR werden Politikwissenschaftler interviewt, die erklären, warum die Union gescheitert ist. Und das bei einem Plus von 7,6 Prozentpunkten für Boris Rhein in Hessen.

Den Ton gesetzt hatte eine denkwürdige Talkrunde am Sonntag nach zwei Landtagswahlen und einem aufziehenden Krieg im Nahen Osten. Eine der dienstältesten Großmeisterinnen der politischen Debatte, Anne Will, lud zu einer Show, in der, wie leider seit Jahren üblich, bürgerlich-konservative Ansichten zum Türöffner rechtsradikaler Entgrenzung stilisiert werden sollten.

Mein Kollege (und Freund) Robin Alexander hatte was dagegen: „Warum ist jetzt der heutige Abend ein Anlass, um über irgendwas zu reden, was Friedrich Merz angestellt hat? Die Union hat beide Wahlen gewonnen – und der in München, der Konkurrent von Merz ist, hatte einen schlechten Abend. Also was genau hat Friedrich Merz jetzt wieder angestellt, dass wir alle über ihn reden?“

Spätestens seit Januar 2018 hatte die großstädtische Bourgeoisie einen linken Traum, der die eigene Privilegiertheit mit moralischer Dekoration und vermeintlich progressiver Politik entlang der eigenen Lebensentwürfe belohnen sollte. Mit Robert Habeck und Annalena Baerbock war eine grüne Doppelspitze gewählt worden, die das Ansehnlichkeitsbedürfnis dieser Bourgeoisie ebenso verkörperte wie den eitlen Idealismus, der immer nur knapp an hanebüchener Naivität vorbeischrammte.

In Migrations-, Klima- und Sozialpolitik sah man sich als Verlängerung und Fortsetzung Merkelscher Realpolitik, die ihre Partei nach links verschoben hatte – mit fatalen Konsequenzen für die Repräsentation konservativer und auch reaktionärer Stimmen, die zur AfD gewechselt sind. Dass jetzt in Bayern und Hessen mehr junge Bürger AfD als die Grünen gewählt haben, ist auch schnell erklärt: Wer Kinder in der Schule hat, weiß, dass die in der S-Bahn, im Bus, auf dem Pausenhof und über einschlägige TikTok-Videos längst wahrnehmen, wie gefährlich Teile der Migrationsnaivität geworden sind. Die „Schweinefleischfresser“ werden in jeder Tonlage deutschfeindlich beleidigt.

Es war ein Wohlstandstraum einer Moral, die man sich glaubte, leisten zu können, weil die (gerne von ihnen auch verachtete) hart arbeitende Mittelschicht ebenso wie die supererfolgreichen Unternehmer zur Kasse gebeten werden sollten. Die Moral kam mit der Umverteilung, die einen weiten Bogen um die verbeamtete obere Mittelschicht machte, welche diese Bourgeoisie trug. Corona wurde als Ermutigung verstanden, die beim Durchregieren störende individuelle Freiheit und die Restbestände liberalen Selbstverständnisses auszuhebeln.

Angst zieht in Deutschland immer – und so wurden und werden in Corona- und Klimafragen die Apokalypseängste bedient. So auch vor Gentechnik und modernster Technologie.

Die Maßlosigkeit der rotgrünen Kulturelite kannte kein Halten. Zur Coronazeit wurden selbst unmenschliche Entscheidungen gefeiert, das moralisch eitle Publikum jubelte über jeden noch so harten Lockdown. Deshalb gab es anfangs auch viel Verständnis für Klimaaktivisten und Sprachpolizisten. Die mittelmäßigste Bourgeoisie der Bundesrepublik sah sich an allen Hebeln der Macht. Es fehlte nur die grüne Kanzlerin.

Aber in der Hybris lag der Anfang vom Ende der Träume: im gepfuschten Werk der Kandidatin, in der Verhöhnung aller Kritiker der Corona-Maßnahmen, in dem Kampf gegen alte, weiße Männer und in dem Atomkraft-Ausstieg, der für Veteranen wie Jürgen Trittin gedacht war. Natürlich sind es nicht die Grünen alleine. Auch die SPD und Teile der Linken hampeln den Trends hinterher. Leider tun dies auch JuLis und linke Unionisten. Der deutsche Kulturbetrieb ist bis auf kleinste Widerstandsgruppen sowieso dabei.

Die Energiewende ist lächerlich. Zu erklären, die ganze Welt werde uns damit folgen, ist wieder Realitätsleugnung. Ähnlich wie das Gefasel vom grünen Wirtschaftswunder, das vom Bundeskanzler und dem Rest des Kabinetts erzählt wird. Das Gegenteil ist der Fall: Deutschland verliert Woche für Woche weitere Teile des Fundaments des Wohlstands und die Startrampen künftigen Wachstums.

Einzig Figuren wie Boris Palmer versuchen wenigstens noch, die Realitätsrepräsentationslücke zu schließen. Zumal die Entzauberung schnell geht. Die Wirklichkeit kann so lange weggequatscht und ignoriert, die eigene Blase kann so lange idealisiert werden, bis diese Wirklichkeit die Tür des Elfenbeinturms eindrückt. Für einige begann das mit den Geschehnissen auf der Kölner Domplatte Silvester 2015. Für andere war es Silvester in Berlin 2022.

Das Abschmieren der Wirtschaft, die Überforderung der Kommunen, das Verweigern jeder Abschiebung, die Verklärung der Klimakleber bei gleichzeitiger Demütigung der Autofahrer. Die Sprachjakobiner und Cancel-Orgien, das Verbieten von Indianern und Schweineschnitzeln usw. usf. – man gähnt beim Schreiben.

Aber irgendwann war es genug. Die Wahlergebnisse in Bayern und Hessen zeigen: Diese rotgrünen Umerziehungs- und Moralträume sind ausgeträumt. Der Krieg gegen Israel und dessen Feier in migrantischen Milieus verdeutlichen auch, wie lächerlich es ist, „Nie wieder!“ zu schreien und gleichzeitig Flüchtlinge aufzunehmen, die, wie in Videos zu sehen, die Hamas-Barbarei bejubeln.

Das Problem für die sich links-liberal dünkenden Eliten aber ist, dass die Realität nicht mehr eingefangen werden kann. Die Realität ist da, und die Ampel kann sich entscheiden, diese Realität zu verändern oder von diesen Realitäten weggefegt zu werden. Die komplett dysfunktionalen Islamverbände, radikale Moscheen mit ihren ekelhaften Predigern, die Dutzenden von NGOs, die jedem radikalen identitätspolitischen Stuss ein Forum geben – und immer und immer wieder der ÖRR, der aktuell maximal ein Drittel der Wähler:innen (sic!) repräsentiert.

Die Bilder der globalen Jubelfeiern im freien Westen zeigen, dass es einen Teil der muslimischen Zivilgesellschaft gibt, der mit dem Westen nichts anfangen kann und ihn offen verachtet. Dialektisch muss es zur Willkommenskultur eben auch eine Unwillkommenskultur geben für jene Migration, die am Ende das Zusammenleben aufgeklärter, liberaler, freier Bürgerinnen und Bürger gefährdet.

Von Elie Wiesel stammt der Satz, dass Juden für freie Gesellschaften wie der Kanarienvogel in der Kohlemine Frühindikatoren für eine Vergiftung des Miteinanders sind. Teile der muslimischen Kultur zeigen, was darunter zu verstehen ist. Die verstörenden Bilder aus Deutschland, von den Pausenhöfen über die Insta-Accounts migrantischer Popstars bis hin zu den israelfeindlichen Demonstrationen, verdeutlichen, dass die Naivität in der Migrationsfrage längst zu einer Existenzfrage geworden ist.

In aktuellsten Umfragen wird deutlich, dass selbst eine knappe Hälfte der Grünenwähler in Bayern und Hessen eine andere Migrationspolitik wollen. Bei der SPD sind die Zahlen noch drastischer, und das Geschäftsmodell der Sahra Wagenknecht wird sein, jene sozialistischen Etatisten ohne jede Lust auf Migration einzusammeln.

Wer das Ermorden von Israelis feiert und beklatscht, sollte hier weder Asylrecht besitzen noch geduldet, sondern abgeschoben werden. Wer es in Flüchtlingslagern tut, sollte gehen müssen. Und zwar so unverzüglich wie möglich. Das ist nicht nur Teil unserer historischen Verantwortung, sondern auch ein Akt des Selbstschutzes gegen das Gift eines vulgär-mittelalterlichen, komplexiven Todeskultes, der wissen sollte, dass es für ihn kein Verständnis und keine Toleranz geben wird.

Wenn Linke Feigheit und Appeasement als Toleranz verkaufen:

„Es ist erschreckend, festzustellen, dass Jugendliche in Algerien und anderswo, gebildete Leute, die Ermordung der Journalisten und Zeichner von ,Charlie Hebdo‘ rechtfertigen. Von Algier bis Dubai finden sich im Internet Äußerungen, die einem das Blut gefrieren lassen und die von unserer Unfähigkeit zeugen, den historischen Wandel zu vollziehen, den der Islam braucht. Die Frage ist doch, was im Umgang mit unserer Religion derartige Abirrungen erlaubt?“
Wie schwer diese Fragestellung sein wird, deutete der muslimische Philosoph Abdennour Bidar im Dezember in seinem „Offenen Brief an die muslimische Welt“ an: „Ich sehe dich ein Monster hervorbringen, das sich ,Islamischer Staat‘ nennt. Das Schlimmste aber ist, dass ich dich deine Zeit und deine Ehre damit verlieren sehe, dich zu weigern, zuzugeben, dass dieses Monster aus dir geboren ist, aus deinen Irrwegen, deinen Widersprüchen, deinem unaufhörlichen Hin- und Hergerissensein zwischen Vergangenheit und Gegenwart, deiner schon zu lang andauernden Unfähigkeit, deinen Platz in der menschlichen Zivilisation zu finden.“

http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/linke-verweigern-diskussion-ueber-islam-und-gewalt-13377388.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Aus aktuellem Anlass nochmal:

„Wir erleben gerade eine große kulturelle Revolution in der islamischen Welt. Nicht nur Pakistan ist betroffen, sondern mehr oder weniger jedes muslimische Land. Pakistan verändert sich, Afghanistan hat sich radikalisiert, Iran, der Irak, viele Länder in Afrika und in der arabischen Welt, Ägypten, Algerien, jetzt Mali. Früher oder später wird man auch in Syrien nur noch verhüllte Frauen sehen. Aber schauen wir uns die islamischen Gemeinden in Europa und in den USA an – die sind von dem gleichen Erreger infiziert. Warum? Ich glaube, man merkt, dass man anders ist als andere. Offensichtlich existiert das Verlangen zu zeigen, dass man anders ist. Eine Burka ist ja nichts anderes als ein Etikett, um sich abzugrenzen. Dadurch wird in aller Deutlichkeit gezeigt: Meine Identität ist islamisch. Diese Identität ist eng verknüpft mit dem Gefühl, ein Opfer der Geschichte zu sein. Tief versteckt empfinden Muslime, dass sie gescheitert sind. Diese Mischung von Befindlichkeiten flößt mir Angst ein, denn sie führt zu einem Verhalten, das sehr ungesund ist.“

http://www.spiegel.de/politik/ausland/interview-mit-dem-pakistanischen-atomphysiker-pervez-hoodbhoy-a-879319.html

„Aus Sicht von Leuten wie Augstein, Göring-Eckardt oder Hofreiter, ist jede kritische Einstellung zur schrankenlosen Einwanderung in Deutschland eine Art Krankheit, eine xenophobische Haltung, d.h. eine der Realität unangemessene Angst vor Fremden bzw. vor dem Fremdem allgemein. Verantwortlich dafür: mangelnde Bildung, Rassismus und primitive Atavismen, vor allem bei (weißen) „Männern mit Lehr- und Pflichtschulabschluss“, wie es in der ZEIT vor kurzem exemplarisch dazu hieß. Die moralisch erhöhende Haltung, alle, die sich nicht den weltoffenen Chargon des Juste Milieu angeeignet haben, als rassistisch zu denunzieren, ist selbst im besten Sinne sozialrassistisch zu nennen. Die Abscheu auf alles Ländliche, Provinzielle, den apolitischen Arbeiter, den „kleinen Mann“, die Abwertung der Praktiker vor Ort, Polizisten, Lehrerinnen, die Verachtung der Kneipe oder des Stammtisches – dieser Hass, der sich in einem aggressiven Antirassismus manifestiert, ist in Deutschland weit verbreitet. Man liebt den Fernsten und hasst den Nachbarn, der sich der verordneten Willkommenskultur verweigert, mit aller sonst nicht vorhandenen Leidenschaft. „